Generationstrauma

Generationstraumata – vererbte Wunden in der Gegenwart 

Die Tochter von Fatma wird bald Zahnärztin, und du fängst mit 27 an zu studieren. Hassans Sohn hat mit 22 ein Geschäft eröffnet und sucht eine passende Braut. Gott möge ihnen viele Kinder geben.

Das sind Sätze, über die Melisa und ihr Studiogast sprechen. In ihrer Podcast-Produktion mit dem Titel Generationstrauma beleuchtet sie ein Thema, das viele betrifft, aber oft unausgesprochen bleibt. Melisa ist eine junge Studentin, die mit einem Bachelor als Medienexpertin in die Berufswelt einsteigen möchte. Bis dahin hat sie an der Hochschule noch zahlreiche Seminare, Vorlesungen, wissenschaftliche Hausarbeiten, Statistiken, Formeln, Praktika und Prüfungen zu bewältigen. Zudem muss sie sich mit individueller Finanzplanung auseinandersetzen. Doch eine Herausforderung unterscheidet sie von vielen anderen Studierenden. Sie lässt sich schwer benennen, ist aber für diejenigen, die nicht typisch deutsch aufgewachsen sind, spürbar.

Es geht um traumatische Erfahrungen, die nicht sie selbst, sondern ihre Eltern und deren Eltern erlebt haben. Diese Erlebnisse werden bewusst oder unbewusst an nachfolgende Generationen weitergegeben. Dadurch können Nachfahren an den Folgen leiden, ohne dass sie das ursprüngliche Trauma selbst erlebt haben. Traumata werden weitervererbt, ohne dass die Eltern oder die Kinder etwas dafürkönnen. Dabei spielt weder die Herkunft noch die Religion eine Rolle. Entscheidend ist, ob die Eltern in der Lage waren, ihre Traumata aufzuarbeiten. Wer nie gelernt hat, sich selbst zu reflektieren oder Probleme zu lösen, gibt diese Muster oft weiter.

Ich bin Journalistin, Hamburgerin und Tochter türkischer Eltern, die in der Türkei geboren und zur Schule gegangen sind. Ich gehöre zur Generation X, während meine elfjährige Tochter der Generation Alpha angehört. Viele Jahre habe ich als Fernsehjournalistin über Generationskonflikte von Jugendlichen mit türkischem, arabischem oder afghanischem Hintergrund berichtet. Dabei habe ich nicht nur dokumentiert, sondern auch vermittelt, geholfen und versucht, aufzuklären.

In der Redaktion, in der ich als Autorin tätig war, gab es feste Schubladenbilder – hilfreich für diejenigen, die sich mit dem Thema schwer taten, aber wenig nützlich für eine glaubwürdige Berichterstattung oder für die Betroffenen selbst. Besonders am Herzen lag mir die Berufsausbildung junger Menschen mit Wurzeln in der Türkei, arabischen Ländern, Afrika oder Asien. Viele von ihnen werden bewusst oder unbewusst gedrängt, den Lebensweg ihrer Eltern fortzusetzen. Gleichzeitig steckt unsere Gesellschaft in Sachen Kulturkompetenz noch in der Entwicklung. Eltern halten oft an ihren Prägungen fest und geben diese weiter, doch die Nachkommen können sich nicht einfach davon trennen. Die Kultur, die Traditionen und die Liebe der Eltern sind ein Teil von ihnen. Oft führt das dazu, dass die eigene Berufswahl und die persönliche Entwicklung nach hinten gestellt werden. Das eigene Leben wird von anderen geformt – und das Generationstrauma setzt sich fort.

Meine Seminare sind praxisorientiert. Die Teilnehmenden bekommen von mir das nötige Wissen, um eigenständig und mit Kommilitonen Podcasts oder Filme zu produzieren. Während der Produktionen begleite ich sie in Einzelcoachings. Dabei geht es nicht nur um neue Storys, sondern auch um persönliche Geschichten.

Melisas Gast ist eine sehr gute Freundin afghanischer Herkunft. Die beiden sind nicht verwandt, teilen aber ähnliche Erfahrungen und familiäre Herausforderungen. Im Podcast spricht Melisa über den Druck und die Missverständnisse in der Gesellschaft ihrer Eltern, über ein Trauma, das von der Großmutter zur Tochter und von der Mutter zum eigenen Kind weitergegeben wird. Oft ohne Reflexion oder die Hoffnung, aus dem eigenen Leben das Beste zu machen.

Wir verbringen viel Zeit im AV-Labor. Hier kann eine Studentin wie Melisa ihre Stimme nutzen, um ihre Themen hörbar und für andere verständlich zu machen. Mit professioneller Technik entstehen Podcast-Produktionen, die direkt auf dem Arbeitsmarkt veröffentlicht werden können. Dabei durchlaufen die Studierenden auch eine persönliche Entwicklung: den Aufbruch ins Abenteuer der eigenen Geschichte. Das motiviert mich enorm, selbst wenn es für mich als Dozentin einen großen Zeitaufwand bedeutet.

Als ich vor einigen Jahren begann, an der Hochschule digitale Medienkonzeption und -produktion zu lehren, wurde ich sofort mit dieser Problematik konfrontiert. Es ist ein leises, fast stilles Problem. Die Studierenden sprechen nicht darüber. Es ist tabu, manchmal beschämend und oft einsam. Ich war davon überzeugt, dass die Generation Z diese Herausforderungen längst bewältigt hätte. Dass sie als junge Menschen im digitalen Zeitalter ihr Leben frei gestalten könnten. Doch die Realität sah anders aus. Ich erkannte: Die Zeit ist scheinbar stehengeblieben. Traumata früherer Generationen sind noch immer präsent und damit ein Teil unserer Gesellschaft.

Melisas Podcast möchte eines: Gehört werden. Vor allem von ihren Eltern. Sie will, dass ihre Interessen, Sorgen und Herausforderungen ernst genommen werden. Auch wenn sie erst mit neunundzwanzig ihr Studium begonnen hat. Auch wenn eine Heirat für sie nicht infrage kommt. Heute noch sehen viele Frauen in einer Ehe den einzigen Ausweg aus toxischen familiären Strukturen auszubrechen. Und es sind genau solche jungen Menschen wie Melisa, die diesen Teufelskreis durchbrechen.

Die Lösungsansätze für ihre familiären Konflikte sucht sie sich von außen. Von Vertrauenspersonen wie mir. Mein Rat: Sie sollte nicht auf das Verständnis ihrer Mutter warten – zumindest nicht sofort. Denn die Mutter, die selbst in eine Ehe gezwungen wurde, kann diesen Kreislauf nicht ohne Weiteres durchbrechen. Doch ich bin überzeugt, dass sie irgendwann ihre Tochter verstehen und respektieren wird. Vielleicht findet sie sogar den Mut, sich selbst zu verwirklichen, unabhängig von ihrem Mann.

Es geht nicht darum, die Liebe der Eltern infrage zu stellen, sondern um Wege, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Arbeitsräume für Studierende, in denen sie sich mit anderen austauschen können, sind ein erster Schritt. So können sie zeigen, dass sie nicht "auf die schiefe Bahn" geraten, sondern wissen, was sie tun.

Und so endet Melisas Podcast: mit Hoffnung. Auf eine gemeinsame Zukunft mit ihren Eltern, auf eine Gesellschaft, die zuhört, und auf das Ende des Generationstraumas. Melisa will Medienmacherin werden, ihre Erfahrungen teilen – sei es im Fernsehen, in einer Agentur oder in einem Start-up.

Für mich als Dozentin ist es eine Freude zu sehen, wie junge Frauen und Männer in ihren Produktionen wachsen. Ich werde sie weiterhin begleiten – und selbst weiter in diese vertrauten Welten eintauchen. Denn auch ich war einmal eine Studentin, die nach Lösungen zwischen den Kulturen suchte, um ihr Generationstrauma zu besiegen. 

 

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